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Die Ängste meiner Mutter ...

Ich habe heute, am 19.09.16, also einen Tag nach der Wahl in Berlin mit meiner 92-jährigen Mutter telefoniert. Ich telefoniere regelmäßig mit ihr - mehrfach pro Woche. Sie erzählt mir am Telefon seit Langem eigentlich mehr oder weniger die gleichen Geschichten: Die Erlebnisse ihres - aufgrund der zunehmenden Einschränkung ihrer Mobilität - mittlerweile etwas eintönigen Alltags. Es waren ausnahmslos harmlose und auch oft sehr nette Inhalte, über die wir uns austauschten. Ok, ab und an ging es auch um unsere "Wehwehchen", aber ich habe meine Mutter meistens positiv und sehr gefestigt erlebt.

Über ihre Ängste haben wir  - ich kann mich beim besten Willen nicht anders erinnern - ganz selten gesprochen. Wenn, dann ging es um konkrete Dinge wie anstehende Operationen. Aufregen konnte sie sich auch, zum Beispiel wenn das Wetter langanhaltend schlecht war (weil sie bei Regen und Matsch mit dem Hund nicht länger rausgehen konnte) oder wenn nichts Unterhaltsames  im Fernsehen kam. In den letzten Monaten hörte ich aber auch immer wieder mal den Kommentar "Nachrichten schaue ich mir bald gar nicht mehr gerne an, es kommen ja nur noch Schreckensmeldungen!" Oder etwas wie "Die Menschheit lernt nicht dazu!" Nun, wer, wenn nicht meine Mutter in ihrem hohen Alter, kann das besser beurteilen?

 

Heute habe ich sie das erste Mal voller Angst erlebt - sie hatte gestern Abend die Ergebnisse der Berliner Wahl im Fernsehen verfolgt. Auf mein Nachfragen, was ihr denn Angst bereitet, konnte sie anfangs nicht konkret antworten - doch dann kam der entscheidende Satz:

 

"Ich kenne das alles ... diese seltsame Stimmung im Land, die politischen Parolen. Es ist nur so ein Gefühl ...

 

 


... und das macht mir Angst"

Ich war in genauen Geschichtsdaten nie sehr sicher gewesen, deshalb habe ich gerade mal recherchiert:

 

1924: Das Geburtsjahr meiner Mutter. Beginn der Weltwirtschaftskrise.

 

1925: In Adolf Hitler's Buch 'Mein Kampf' finden sich konkrete Hinweise der Judenhetze (die jüdische Bevölkerung hatte damals einen Anteil von unter 1% der Gesamtbevölkerung!) Der Autor und sein Werk waren damals so gut wie unbekannt. Hitler gründet zusammen mit anderen Gesinnnungsgenossen die "Protestpartei" NSDAP.

 

1930: Zusammenbruch der Großen Koalition unter Führung der SPD. Gegen Ende des Jahres steigert die bis dahin noch unbedeutende Splitterpartei "Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei" (NSDAP), die sich die Unsicherheit großer Bevölkerungsteile durch die Weltwirtschaftskrise zunutze macht, ihr Wahlergebnis von 2,6 auf 18,3 %.

 

1932: Die NSDAP wird stärkste Partei mit mehr als 37%. Sie erreicht mit populistischen Parolen zur "Stärkung der Volksgemeinschaft" und dem geplanten "Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft von Juden" die breite Masse der Bevölkerung.

 

1933: Meine Mutter ist neun Jahre alt. Hitler wird Reichskanzler. SS- und SA-Mitglieder werden zur "Hilfspolizei" ernannt. Es gibt die neue Verordnung gegen den "Verrat am Deutschen Volke". In Dachau bei München wird ein Lager zur Inhaftierung "politisch missliebiger Personen" errichtet. Erste Aufrufe zu Massenkundgebungen mit Äußerungen zur jüdischen Bevölkerung: "Schurken, Ungeziefer, Volksverräter, Bazillen und Viren". Erste Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte. Erste Entlassungswelle "nichtarischer Beamter". Erste Bücherverbrennungen.

 

1936: Olympiade in Berlin. Meine Mutter turnt mit Freundinnen aus dem "Bund Deutscher Mädel" (BDM) bei der Eröffnungsfeier im Berliner Olympiastadion vor den Augen Adolf Hitlers. Sie ist 12 Jahre alt und findet das Ereignis ganz toll!

 

1939: Meine Mutter ist 15 Jahre alt. Beginn des Zweiten Weltkriegs.

 

2016: Die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) erreicht mit einem von Rechts-Populismus, Patriotismus und wirrem Gedankengut gekennzeichneten Wahlkampf in den Landtagswahlen folgende Ergebnisse: In Berlin 14,2 %, in Mecklenburg-Vorpommern 20,8 % und in Sachsen-Anhalt 24,2 %.

 

 

Meine Mutter hat wohl Recht, die Menschen lernen nichts dazu.  Mir macht das alles auch Angst ...

„Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können,

muss man vor allem ein Schaf sein.“

(Albert Einstein)

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